30. Juli 2025
Führe ich ein Doppelleben?
Ein Leben in zwei Rollen
Man sieht mir meine Krankheit nicht an. Und oft glaube ich selbst fast nicht mehr daran – zumindest an den guten Tagen. Oder eher: an den funktionalen Tagen. Denn das ist es, was diese Krankheit mit mir macht. Ich lebe ein Doppelleben. Außen scheinbar stabil, funktionierend, engagiert. Innen ein täglicher Überlebenskampf.
Was das heißt? Ich nehme dich mit – in einen dieser Tage, wie er für mich aussieht. Nicht aus Mitleid, sondern weil es wichtig ist, dass wir darüber sprechen. Damit klar wird, was es bedeutet, mit ME/CFS zu leben. Und warum „Du siehst aber gar nicht krank aus“ der wohl unpassendste Satz der Welt ist.
So sieht das bei mir aus:
Morgens aufstehen. Mittlerweile um 6 Uhr, weil ich so viele NEMs nehmen muss, die ich aber nicht zusammen nehmen darf. Dazwischen muss auch noch Zeit sein für die bessere Wirksamkeit. Mein Wecker klingelt. Dann erst mal Augen geschlossen halten und abchecken, mit welchen Symptomen ich heute leben muss.
Muskelschmerzen in den Beinen? Wie immer verlässlich da.
Kopfschmerzen? Meist auch.
Brennende Augäpfel? Auch fast immer.
Schmerzende Arme? Kommt auf die Tagesbelastung davor an.
Kribbeln in den Armen? Zu 90 % ja.
Dann erst mal liegen bleiben. Augen zu. Atmen. Klarkommen.
Mein Mann steht lange vor mir auf. Denn wenn ich Tabletten nehmen muss, heißt das auch, dass mir jemand das Wasser dazu bringen muss und etwas zu essen, weil mir sonst noch mehr Energie fehlen würde.
René weckt mich immer sehr liebevoll und lässt langsam das Tageslicht rein.
Dann kommt immer eine vorsichtige Frage wie: „Wie hast du geschlafen?“ Ich weiß, dass er damit abcheckt, wie die Lage heute sein wird. Um meinet- und auch seinetwillen.
Dann bringt er meist das Frühstück ans Bett. Alles andere wäre schwierig.
Essen.
Dann weiterliegen.
Langsam ins Bad gehen – die Lebensgeister in mir erwecken. Wenn da an dem Tag welche sind.
Zähneputzen – meist im Sitzen.
Duschen – immer im Sitzen.
Schminken – halbsitzend im Fensterbrett, weil der Spiegel zu hoch hängt zum Sitzen.
Anziehen – genau überlegen was, weil ich werde nicht fünfmal zum Schrank laufen können.
Kompressionsstrümpfe – damit fallen viele Kleidungsstücke schon mal raus, die damit scheiße aussehen würden.
Ist heute ein Tag, an dem ich glühe oder spontan mal wieder erfrieren werde?
Anziehen im Sitzen. Aber noch nicht die Kompressionsstrümpfe. Dafür muss ich erst mal weiter Kraft tanken.
Dann geht’s das erste Mal nach unten ins Erdgeschoss. Hoffen, dass man oben nichts liegen gelassen hat.
Angenommen, es ist ein Tag, an dem ich nach Hamburg ins Büro muss, dann beginnt jetzt der richtige "Spaß": Tasche mit Medikamenten, Mini-Ventilator, Trinken, Traubenzucker, Elektrolyte, Notfall-Snacks für spontane Unterzuckerung, Kopfhörer, Sonnenbrille packen - und die Sachen die man halt auch zum Arbeiten braucht.
Vollgepackt wie ein Esel geht es ins Auto, um zum Zug zu fahren. Mit dem Bus kann ich schon lange nicht mehr fahren. Da müsste ich fünf Minuten hinlaufen. Dafür gibt’s keine Energie.
Zum Zug fahren. Hoffen, dass weit vorne ein Parkplatz frei ist.
Auf den Zug warten. Hoffen, dass er nicht wieder zu spät kommt oder sogar ausfällt.
Nach Hamburg fahren mit dem Auto? Meist undenkbar, weil ich mich nicht so lange am Stück konzentrieren kann. Meine kognitiven Fähigkeiten würden mich ungefähr auf halber Strecke verlassen.
Der Zug kommt. Einsteigen – und jetzt genau taktieren, wo man einsteigt, um einen Sitzplatz zu bekommen. Panik, wenn der Zug voll ist und man eventuell keinen Sitzplatz bekommt. Dann muss man diskutieren, und die Leute sind noch egoistischer als ohnehin schon, sobald sie in den Zug steigen. Am schlimmsten: der Zug Kiel–Hamburg. Deutschlands meistbenutzte Pendlerstrecke. Es ist ein Trauerspiel.
Glück gehabt. Sitzplatz gefunden. Trinken. Puls runterregulieren.
Eventuell kann ich mal in ein Schulbuch schauen. Meist bleibt nur Musik hören. Wobei Musik… witzig… ich bin eigentlich Musikerin durch und durch… mittlerweile bleibt oft nur die Spotify-Playlist „Regengeräusche“ zur Wahl. Alles andere wäre zu viel.
In Hamburg geht der Spaß weiter. Kann ich heute ins Büro laufen? Ist die Energie dafür da? Wie ist das Schmerzlevel meiner Beine? Oder muss ich in einen der vollgestopften Busse einsteigen und die zwei Haltestellen fahren? Meist muss ich mittlerweile fahren.
Im Büro angekommen heißt es nur „funktionieren“. Und ab hier übernimmt „Lisa No. 2“. Das ist mittlerweiel eine komplett andere Person. Die funktioniert. Ich bin im kompletten Überlebensmodus. Ich mache meine Arbeit. Die mache ich auch weiterhin gut. Aber nicht mehr so schnell wie früher, nicht mehr so viel wie früher. Unvorhergesehene Dinge werfen mich komplett aus der Bahn. Schwierig bei einer Eventagentur. Da passieren 90 % am Tag unvorhergesehene Dinge.
Mittag – da fällt mein Kopf in ein komplettes Tief. Viel zu viel kognitive Anstrengung.
Essen. Und warten, dass es weitergehen kann. Tabletten.
Dann noch drei bis vier Stunden auf kleiner Flamme weiter funktionieren.
Ich bin von Menschen umgeben, die wissen, dass ich krank bin. Aber so wie die meisten Menschen verstehen sie das Krankheitsbild nicht. Sie wissen nicht, was das für ein Kraftakt für mich ist. Sie merken nicht, dass ich eigentlich gerade einen Marathon laufe, während ich da im Büro sitze. Ich will ja auch nicht jeden Tag mein Befinden mit Kolleg*innen neu bewerten. Also spreche ich wenig darüber. Das ist ja auch einer der wenigen Flecken, wo ich nicht nur „die kranke Lisa“ bin. Hier bin ich noch Lisa No. 2 und spiele jeden Tag eine Maskerade.
Und hier kommt der Punkt, an dem sich mein Gehirn veräppeln lässt. Denn wenn der Tag bis hierhin halbwegs okay gelaufen ist, dann denkt mein Gehirn: „Ey Lisa, du bist doch gar nicht so krank. Das lief doch heute. Lass mal mehr machen, jetzt wo das heute geht. Du bist bestimmt spontan geheilt. Alles vergessen.“
Es braucht sehr viel Kraft, dagegenzuhalten und nicht mehr zu machen, auch wenn der Tag okay war. Denn der Teil meines Gehirns bedenkt auch nicht die nächsten weiteren Stunden und das, was ich noch leisten muss. Das ist einfach in dem Moment voller Glück – und will mich austricksen.
Also Feierabend. Und dann wieder nach Hause. Und dann geht es wieder los.
Mit dem Bus? Was ist mit dem Zug? Habe ich genug zu trinken für die Rückfahrt? Wie voll ist die Auslastung erwartet?
Wieder zu Hause falle ich einfach völlig erschöpft um.
Mein WHOOP sagt: „Herzlichen Glückwunsch, du hast heute dein Trainingsziel übertroffen.“
Nur dass ich keine Minute trainiert habe.
Ich habe funktioniert, um zu arbeiten.
Ich hatte auch Spaß bei der Arbeit. Aber alles andere darum war ein Krampf.
Mit viel Glück bin ich heute in meinem Pacingziel geblieben. Meist bin ich das nicht. Mein Körper reagiert jeden Tag anders auf Belastung und Anstrengung, daher ist Pacing einfach leichter gesagt als getan.
Warten, dass mein Mann kommt und es Essen gibt. Jetzt noch kochen? Undenkbar.
Essen.
Mit Glück noch ein wenig TV schauen können.
Gegen 20:30 Uhr merke ich, dass meine Lichter ausgehen. Ich bekomme nicht mehr mit, was da gesprochen wird im TV. Mein Mann redet mit mir. Ich schaue ihn an. Nicke.
Höre ihn sagen: „Oh, du kannst nicht mehr zuhören.“
Recht hat er. Kann ich aber so auch nicht mehr richtig sagen. Keine Kraft mehr.
Und dann steht noch mein Endgegner an: die Treppe wieder nach oben.
Schritt für Schritt. Stufe für Stufe. Mein Mann muss mitlaufen. Ich könnte stürzen, gestolpert bin ich schon oft.
Geschafft. Nur noch ins Bad und dann schlafen.
Traurigkeit.
Gefühlt liegt 21 Uhr noch der halbe Tag noch vor uns. Aber ich kann einfach nicht mehr.
Und dann: Angst.
Vorsorglich sendet mir mein dysreguliertes Nervensystem mittlerweile panische Angst vor dem nächsten Tag. Weil es weiß, dass wir nicht wissen, was das Symptom-Roulette uns schenkt.
Und damit schlafe ich mit Glück schnell ein.
Zum Thema „Schlaf“ melde ich mich dann noch mal separat.
Das ist ja noch mal ein ganz anderes beschissenes Kapitel dieser Krankheit.