Was passiert, wenn ein ganzes Gesundheitssystem versagt?
Der größte medizinische Skandal unserer Zeit
Warum ME/CFS systematisch übersehen, kleingeredet und unterforscht wurde – und was das für Millionen Menschen bedeutet.
Wenn man über Skandale spricht, denkt man oft an Bestechung, Korruption oder öffentliche Fehltritte. Aber es gibt Skandale, die stiller sind – und dadurch umso brutaler. ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) betrifft in Deutschland nach konservativen Schätzungen rund 600.000 Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche. Weltweit geht man von mindestens 20 bis 30 Millionen Betroffenen aus – und doch kennt kaum jemand die Krankheit. Oder schlimmer: Viele halten sie für Einbildung.
Ich nenne das den größten medizinischen Skandal unserer Zeit. Und ich bin nicht die Einzige.
Dieser Begriff stammt ursprünglich vom britischen Neurologen Prof. Malcolm Hooper, der die jahrzehntelange Verleugnung, Fehldeutung und Vernachlässigung der Erkrankung als das bezeichnet hat, was es ist: eine systematische Missachtung von Millionen Erkrankten – durch Medizin, Forschung und Politik. Und bis heute ändert sich das nur schleppend.
Eine Krankheit mit Systemversagen
ME/CFS ist keine neue Krankheit. Sie ist seit über 70 Jahren dokumentiert. Doch weil sie schwer messbar ist, oft nach viralen Infektionen auftritt, aber auf keinem Standard-MRT sichtbar wird, passte sie nie ins Raster der Schulmedizin.
Stattdessen wurde sie lange psychologisiert. Menschen, die plötzlich nach einem Infekt ihr Leben nicht mehr führen konnten, galten als depressiv, hysterisch, überfordert. Auch heute gibt es noch ärztliche Leitlinien, in denen empfohlen wird, dass man sich einfach „nicht so hängen lassen“ solle – als wäre die Krankheit ein Denkfehler.
Dabei wissen wir heute, was im Körper passiert. Zahlreiche Studien zeigen:
- Es gibt deutliche Hinweise auf immunologische Fehlregulationen, z. B. eine reduzierte Aktivität natürlicher Killerzellen oder Autoantikörper gegen β2-Adrenozeptoren【1】.
- Es zeigen sich neuroinflammatorische Veränderungen, also Entzündungsprozesse im Gehirn【2】.
- Viele Betroffene haben Störungen im Energiestoffwechsel – ihre Zellen produzieren weniger ATP, den universellen Energieträger【3】.
- Es lassen sich dauerhafte vaskuläre Dysfunktionen und eine gestörte Durchblutung beobachten【4】.
- Mehrere internationale Forschungsgruppen arbeiten an Bluttests und Biomarkern, die die Diagnose objektivierbar machen könnten【5】.
Und trotzdem passiert: zu wenig.
Warum?
Forschungsgelder? Fehlanzeige.
In den USA wurden unter der Regierung Trump die Mittel für die ME/CFS-Forschung massiv gekürzt. Und auch in Deutschland bleibt es absurd: Obwohl die Krankheit laut einer Analyse der Berliner Charité den Staat bis zu 60 Milliarden Euro jährlich kostet – an Krankengeld, Frührente, Behandlungskosten und Pflegeleistungen【6】 – fließt fast nichts in die Forschung.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach forderte im März 2024 im Stern-Interview 1 Milliarde Euro für die Erforschung von ME/CFS, Long Covid und verwandten Erkrankungen. Passiert ist seitdem: wenig.
MS und ME/CFS im Vergleich – zwei Krankheiten, zwei Realitäten
Multiple Sklerose (MS) und ME/CFS gelten beide als schwerwiegende neurologische Erkrankungen, beide können zu dauerhafter Erwerbsunfähigkeit führen, beide betreffen häufig junge Erwachsene. Die US-amerikanische National Academy of Medicine stuft die Schwere von ME/CFS sogar als gleichwertig oder höher als bei MS ein【7】.
Doch ein Blick auf die Versorgungssituation zeigt ein erschreckendes Ungleichgewicht:
- In Deutschland gibt es für ca. 250.000 Erkrankte über 250 spezialisierte MS-Zentren mit integrierter Betreuung, Forschung und Anbindung an Kliniken【8】
- Für ME/CFS existieren für die über 600.000 Erkrankten aktuell nur zwei Anlaufstellen für schwer erkrankte Erwachsene mit expliziter Spezialisierung – beide überlaufen, unterfinanziert und ohne gesicherte Finanzierung【9】
Das bedeutet konkret: Hunderttausende Betroffene sind völlig unterversorgt. Viele finden jahrelang keine ärztliche Hilfe, keine Diagnose, keine Reha, keine Pflege – geschweige denn Therapieoptionen.
Das System schützt sich selbst
Ein Teil des Problems: Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat im Juli 2025 eine Stellungnahme veröffentlicht, die neue Erkenntnisse ignoriert und die Krankheit erneut auf psychosomatische Konzepte reduziert. Sie verneint die immunologische Komponente fast vollständig – entgegen der internationalen Studienlage【10】.
Solche Stellungnahmen wirken wie ein Rückfall. Und sie machen es Menschen wie mir noch schwerer, ernst genommen zu werden.
Was das persönlich bedeutet
Ich selbst bin betroffen. Und wie viele andere auch habe ich Jahre gebraucht, bis ich überhaupt eine Diagnose hatte. Was dann kam, war kein Aufatmen – sondern ein medizinischer Hindernislauf. Jeder Bluttest, jeder Facharztbesuch, jede Information musste ich mir selbst zusammensuchen. Unterstützung? Kaum. Struktur? Fehlanzeige.
Diese Seite ist kein Ort der Anklage. Aber sie ist ein Ort der Klarheit. Denn solange Menschen mit ME/CFS noch belächelt, falsch behandelt oder völlig im Stich gelassen werden, dürfen wir nicht still sein.
Was sich ändern muss
- ME/CFS muss flächendeckend anerkannt und verstanden werden – nicht nur als Krankheit, sondern als Notlage.
- Es braucht fundierte Fortbildungen für medizinisches Personal.
- Forschungsgelder dürfen nicht Symbolpolitik bleiben, sondern müssen konkret und langfristig fließen.
- Politik und Wissenschaft müssen gemeinsam neutrale, multidisziplinäre Zentren schaffen, die Forschung und Versorgung verzahnen.
Denn: Wer nicht sieht, kann nicht helfen. Und wer nicht hilft, macht sich mitverantwortlich.
Quellen (Auswahl):
1 Scheibenbogen et al., Autoimmunprozesse bei ME/CFS, Nature Reviews, 2023
2 Nakatomi et al., Neuroinflammation in ME/CFS, Journal of Nuclear Medicine, 2014
3 Tomas et al., Cellular bioenergetics in ME/CFS, Scientific Reports, 2020
4 Wirth & Scheibenbogen, Vascular dysfunction in ME/CFS, Frontiers in Neurology, 2021
5 Davis et al., Nanoneedle diagnostics for ME/CFS, PNAS, 2023
6 Charité: Kostenanalyse ME/CFS in Deutschland, 2022, unveröffentlichtes Hintergrundpapier
7 Institute of Medicine/National Academy of Medicine, Report on ME/CFS, 2015
8 DMSG: MS-Zentren Deutschland, 2024
9 Fatigatio e. V., Übersicht über ME/CFS-Spezialambulanzen, 2025
10 Stellungnahme der DGN zu ME/CFS, Juli 2025